Doppelresonanzgitarre
Angela Waltner
Das Konzept der sogenannten "Doppelresonanzgitarre" geht weitgehend auf den Pariser Gitarristen Lucien Gelas zurück. Josef Zuth erläuterte das Prinzip in seinem Handbuch der Gitarre und Laute 1926:
"Der Bau von gitarr- und lautenartigen Instrumenten verdankt G. neuartige Modelle (System Gelas). G.s "Doppelresonanzgitarren" wollen dadurch größere Tonstärke erzielen, daß der Saitenzug nicht parallel mit, sondern spitzwinklig gegen die Resonanzdecke läuft; diese steht diagonal zum Körper, eine zweite (Schein-)Decke gibt die Formergänzung, reicht freischwebend bis gegen den Steg und ist dort abgeschnitten. Die Saiten führen durch den Steg zum Saitenhalter, wo sie nach Geigenart angeknüpft sind." (Zuth 1926, S. 113) Fritz Buek verweist zusätzlich auf Beziehungen zur Harfe (Buek 1926, S. 155).
Lucien Gelas, geboren am 15.1.1873 in Menton, Alpes Maritimes, war Gitarrenspieler und Lehrer. Er komponierte für Gitarre solo und schrieb zu eigenen Liedtexten Melodien und Gitarrensätze (Zuth 1926, S. 113). In Paris gehörte er einem Kreis von Gitarristen um Miguel Llobet an, der mehrere Jahre bis 1915 in Paris weilte, wo die Gitarre jedoch in der Öffentlichkeit keine große Rolle spielte (vgl. Buek 1926, S. 85, 109; während Llobets Aufenthalt in Paris kam es zu keinem selbständigen Gitarrenkonzert).
Der Umbruch von der romantischen zur neuen spanischen Gitarre vollzog sich in Frankreich vor dem ersten Weltkrieg. Bei der Suche nach Weiterentwicklung der Gitarre, die um 1900 bis in die Zwanziger Jahre europaweit im Gang war, ging Lucien Gelas einen ganz eigenen Weg. Seine Instrumente (Mandolen- und Gitarreninstrumente) mit doppelter Decke fanden in Frankreich Verbreitung. Zehn seiner Instrumente befinden sich im Pariser Musée de la Musique.
Eine Gelas-Gitarre von 1910 zeigt alle wesentlichen Merkmale des Instrumententyps: Die erste Decke steht in steilem Winkel zum Hals, darüber verläuft in der Halsebene die zweite Decke mit dem geschwungenen Übergang vor dem Steg. Die Saiten sind am Saitenhalter aufgehängt und laufen über einen aufgeleimten Steg. Dieser ist in drei Blöcke aufgeteilt, durch den mittleren werden die Saiten hindurchgezogen, die am vorderen Block über die Stegeinlage laufen. Der Boden liegt parallel zur Ebene der unteren Decke. Dadurch kommt ein extremer Zargenverlauf zustande. Die Gitarre besitzt Steckwirbel. Eine weitere Gitarre aus den zwanziger Jahren fällt von der Form her auf: Ihr fehlen die Mittelbügel ganz.
Gelas Weiterhin existieren im Musée de la Musique eine Ukulele, eine Hawaiigitarre sowie mehrere Mandolen und Mandolinen, die alle nach dem Prinzip der Doppeldecke gefertigt wurden. Im Gegensatz zur Gitarre nahm das Mandolinenspiel Anfang des Jahrhunderts in Frankreich einen Aufschwung. Die Mandolinenspieler waren in großen Vereinen organisiert (Buek 1926, S. 85). Das Konstruktionsprinzip der Doppeldeckengitarre wurde für das In- und Ausland patentiert. Gebaut, möglicherweise auch vertrieben, wurden die Gitarren von dem Pariser Fabrikanten Gaudet. Auf diesem Wege gelangten sie offensichtlich auch nach Deutschland, wo sie in Lizenz nachgebaut und unter dem Namen "Doppelresonanzgitarre" in den Handel gebracht wurden (Buek 1926, S. 156). Luise Walker (1989, S. 35) nennt als Fertiger solcher Gitarren den Instrumentenmacher Schmidt.
Gitarre, Modell Lucien Gelas; Paris um 1920; Privatbesitz
Propagiert wurde der Gitarrentyp von dem Münchener Virtuosen Heinrich Albert (1870-1950), der Gelas kannte (Huber 1995, S. 151). Er hatte eine Mozzani-Gitarre gegen ein solches Instrument eingetauscht. Der Münchener beschäftigte sich mit der Weiterentwicklung der Gitarre und sah die Vorzüge aller dieser Gitarren und das Ergebnis seiner Studien und Erfahrungen in einer "Albert"-Gitarre vereinigt (Huber 1995, S. 151). Weitere namhafte Spieler von Gelas-Gitarren waren Heinrich Alberts Schülerin Luise Walker (1910- 1998) und Bruno Henze (1900-1978).
Fritz Bueks Bewertung dieser Instrumente fällt ausgesprochen negativ aus. Neben ästhetischen Gesichtspunkten bemängelt er auch die tonlichen Qualitäten:
"Das in seinen ästhetischen Formen und seinem organischen Zusammenbau durchaus unschöne Instrument erfüllt keineswegs die Hoffnungen, da es vielmehr durch eine ungleichmäßige Besaitung (zu dünne Bässe) einen zu großen Unterschied zwischen den Darmsaiten und Bässen hervortreten ließ und in seiner Tonstärke und Tonqualität den gewöhnlichen Meisterinstrumenten nachstand, außerdem aber noch durch viele stumpfe Töne gekennzeichnet war. [...] Von einer Doppelresonanz kann nach der vorhin gegebenen Beschreibung keine Rede sein, und die mit großer Reklame in Szene gesetzte Empfehlung und Anpreisung dieser Gitarre war mehr eine Spekulation auf die Leichtgläubigkeit der Spieler als eine Rechtfertigung ihrer Vorzüge" (Buek 1926, S. 156). Entgegen dieser Wertung spricht Luise Walker von einer "wirklich guten" Gitarre (Walker 1989, S. 35).
Auch Richard Jacob baute den Instrumententyp mehrmals nach. Das Instrument mit der Inv.-Nr. 4773 stammt aus dem Jahre 1923. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits die spanischen Gitarren von Llobet (Segovia begegnete er erst 1924) kennen gelernt. Dementsprechend ist Inv.-Nr. 4773 mit einer Fächerbeleistung versehen, wogegen die oben genannte Gitarre von Gelas aus den 20er Jahren noch eine Querbeleistung aufweist.
Zwischen oberer und unterer Decke befindet sich auf der Diskantseite der e'-Saite ein eingeschobenes Holzstückchen. Womöglich soll dieses Schwingungen der Hauptdecke übertragen. Wegen der Lage am Rand der oberen Decke kann es jedoch auch lediglich zur Stützung und Bewahrung des Abstandes dienen. Wohl um ein Verwerfen zu verhindern, ist hinter dem Holzstück ein durchgängiges Futter auf die obere Decke aufgeleimt. Die Hauptdecke ist im oberen Bereich mit Fichtenklötzchen an den Zargen befestigt, um den Halsklotz ist sie ausgespart. Die Gestaltung von Steg und Saitenhalter geht vermutlich auf einen eigenen Entwurf zurück, der geschnitzte Kopf wurde von einem Markneukirchener Holzschnitzer, möglicherweise von Paul Uhlemann, ausgeführt. Akustische Messungen zu den Resonanzeigenschaften weisen zwar erwartungsgemäß die Existenz einer zweiten charakteristischen Deckenresonanz nach, bestätigen in der Tendenz jedoch die Bewertung von Fritz Buek. Demnach wird das Ziel einer erhöhten Lautstärke nicht erreicht (vgl. Artikel Akustik).   4773
Richard Jacob: Modell Doppeldecke, Markneukirchen 1923, Inv.-Nr. 4773
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